Ein Buch zu viel Lass mich nur machen, sagte Harald Dornfeld. Seine Frau Ella hatte gewusst, dass das gleich kommen würde. Und sie wusste auch, was es bedeutete. Harald würde seine Abende ab sofort vor dem Computer verbringen, wo er - beginnend mit Stiftung Warentest - alle Besprechungen, Kritiken und Lobpreisungen durchstöbern würde, die sich zum Thema "Kinderwagen" überhaupt nur auftreiben ließen. Das war, wie er es nannte, Stufe 2. In Stufe 1 hatte er bis dahin bereits alle Hersteller durchforstet, um sich die Kriterien zu erarbeiten, nach denen ein "wirklich guter" Kinderwagen beurteilt werden konnte und ganz nebenbei war dabei noch ein Index aller namhaften Marken entstanden. Stufe 3 bedeutete "Preiskampf". Nun wurden die verschiedenen Anbieter auf ihr Preis-Leistungs-Verhältnis hin überprüft, wobei er den versteckten Nebenkosten, wie Versand, Verpackung, aber auch Rückgabegarantien sowie allen Bewertungen der Anbieter durch Kunden besonderes Augenmerk schenkte. Dies alles war Vorbereitung, denn nun erst begann Haralds kaum zu verheimlichende Leidenschaft ihr Recht zu fordern: die Schnäppchenjagt. Alle Anbieter bei Amazon und auf allen Vergleichsplattformen wurden herangezogen und die Bewertungen studiert. Schließlich fand sich Harald regelmäßig auf den Seiten von ebay wieder, wo er die Versteigerungs- und Sofortkauf-Angebote nächtelang verfolgte, weil er kein rechtes Vertrauen in das automatische Bieten fassen konnte, das, wie er sagte, auch den ganzen Spaß aus der Sache tilgte. Wichtig waren vor allem die letzten Stunden einer Auktion. Ella hatte das Gefühl aus dem Stand ein Buch über dieses Thema schreiben zu können, so oft hatte Harald ihr alle Details auseinander gesetzt. Erst in den letzten Minuten, hatte er ihr mit irrem Funkeln in den Augen erklärt, erst in den letzten Sekunden sogar, entscheidet sich alles. Was nach einer äußerst kritischen Rettungsaktion bei einem Bergwerksunglück klang, war im Kern ein ganz einfacher Einkauf. Ella wurde nebenbei noch in die Transaktion involviert. Sie hatte die Kleinanzeigen in der lokalen Presse im Auge zu behalten. Auch Telefonate mit den Herstellern, die irgendein wichtiges Detail klären sollten, fielen in ihren Aufgabenbereich, wohingegen alle Kontakte mit und Nachfragen bei den Online- Anbietern in Haralds Metier fielen, weil er ihr die Feinheiten und Hintersinnigkeiten dieser mit allen Wassern gewaschenen Spezies Mensch nicht zumuten wollte und wohl auch kein rechtes Vertrauen in ihr Verhandlungsgeschick hatte. Wie gesagt: Diesmal ging es um einen Kinderwagen. Du bist Dir schon im Klaren darüber, dass mein dicker Bauch nicht die Folge einer Pizza-Orgie ist, hatte Sie vorsichtig angeführt, als der Einkaufsprozess ihr allzu langwierig und verzweigt zu werden schien, wir haben da so ein Ablaufdatum, Schatz, das sollten wir nicht ganz aus dem Auge verlieren. Er hatte sie mit verstörtem Blick flehend angesehen. Mach mir nicht auch noch Druck, hatte er gestöhnt. Das ist alles ein Dickicht, das ich erst lichten muss. Da sind unglaublich viele Kriterien zu berücksichtigen. Wenn wir nachher so ein Ding hier stehen haben, mit dem wir nicht zufrieden sind, ist ja auch keinem geholfen. Du weißt schon noch, dass du dabei bist einen Kinderwagen zu kaufen, hatte sie lächelnd gefragt, es klingt nämlich eher nach der Investition in einen Jumbo-Jet. Er hatte nur den Kopf geschüttelt, als wolle er ganz bedächtig ihre Ironie aus den Haaren bekommen. Du verstehst das nicht, hatte er wieder einmal behauptet. Schatz, ich wollte dich ja nur daran erinnern, dass so ein Kinderwagen in der Regel eine begrenzte Verwendungsdauer hat. Fünfzehnjährige werden meist nicht mehr darin spazierengefahren. Das Ding muss also nicht aus Chrom-Vanadium-Stahl sein. Harald sah jetzt verzweifelt zur Decke, als erhoffe er Hilfe aus dem All. Ok, sagte sie, aber bis nächsten Montag muss das Kind aus dem Brunnen - sozusagen. Harald machte einen Laut, den man auch als Zustimmung interpretieren konnte. Es ist gar nicht zu verstehen, was da in einem vorgeht. Man verwandelt sich in eine Art Gerät, halb Backofen, halb Getränkeautomat. Dabei wird man dick, launisch und fühlt sich zeitweise ganz wörtlich genommen zum Kotzen. Man schwitzt. Bei Nacht schläft man unruhig und muss sich mehr wälzen, als drehen. Man fühlt sich attraktiv, wie eine Dampfwalze und erträgt nur schwer, dass man geschont wird, wo man nicht will und gefordert, wo man nicht so kann, wie man will. Es soll Menschen geben, die so ein Zustand als pures Glück erleben. Ella wollte lieber keine dieser Frauen kennenlernen. Dennoch trieb sie die Sorge, ob alles in Ordnung war mit ihr und dem Baby, doch in die physische Nähe dieses schwellbäuchigen Volksstammes. Schon das Wort “schwanger” klang in ihren Ohren wie eine Unanständigkeit, etwas Peinliches. Das Kind in ihrem Bauch trat sie heftig, wie um sie für solche Ansichten zu bestrafen. Dieses Geschwür in ihr begann Eigenleben zu entwickeln. Auch das noch. Sie zog die Ultraschallbilder aus der Handtasche. Sie musste diese schemenhaften Darstellungen immer bei sich haben, um sich selbst glauben zu können. Ja, da wuchs doch tatsächlich etwas in ihr heran. Eindringliche Stimmen in ihrem Kopf erklärten, dass sie den hellen, unscharfen Fleck auf diesem Bild lieben würde - später vermutlich. Ella schenkte sich Kräutertee nach. Soetwas hätte ich früher nicht mal zum Zähneputzen verwendet. Schmeckt wie Pisse mit Lavendelaroma. Aber sie hielt sich akribisch an alles, was man in solch einer Situation zu tun hatte. Kein Alkohol, keine Zigaretten, keine Extreme, den Bauch halten mit seeligem Lächeln und mit sanfter Stimme sagen: Es hat sich bewegt, Schatz. Willst du mal fühlen? Das Kind kam etwas zu früh. Gerade so, als wolle es die nörgelnde Mutter um sich herum endlich los werden. Eine fürchterliche Stunde, bei der ihr Harald vor Hilfsbereitschaft beinahe die Hand zerquertschte, während das Baby alles daran setzte, ihren Körper zu sprengen. Zeitweise wusste sie nicht, was mehr wehtat. Dann kam das Kind. Flutschte heraus, wie ein Fisch, nur größer. begann zu quäken. Und sie fiel rückwärts aus den Schmerzen heraus in eine Leere, in eine Abwesenheit, die sie einige Sekunden erstaunte, bis sie begriff, dass es die Abwesenheit der Fülle war, die sie überraschte, das Ende des Aufgetriebenseins, des Schmerzvollen, der Prallheit. Sie fühlte sich erschöpft und nass. Jemand tupfte ihr den Schweiß von der Stirn. Das wirkte zärtlich. Während sie versuchte, die Welt neu zu begreifen, trat eine strahlende Schwester an ihr Bett heran mit einer Hand voll Leben, beugte sich zu ihr herab, legte ihr das Wesen auf die Brust und sagte: Es ist ein Junge. Sie sah das zuckende kleine Ding an und hatte zum ersten Mal soetwas, wie ein Gefühl. Ein Gefühl der Überraschung und Zuneigung, aber auch der Fremdheit und Sorge. Würde sie dem allem gewachsen sein, wie ein Baum seinen Früchten gewachsen ist - einfach so, als ein Ereignis, als ein Mechanismus, der greifen würde, über sie hinweg, in sie hinein und die Regelkreise richtig einstellte, welche die Zusammensetzung der Milch, den nötigen Grad an Selbstaufgabe und den Hormontiter regulierte, eben das, was es braucht, um das alles als Glück zu empfinden? Die Natur machte alles richtig. Der Kleine atmete und trank, schrie und schlief, zappelte und füllte seine Windeln. Ellen verlor viel von ihrem Interesse an Harald - etwa genau so viel, wie sie an Zuneigung zu dem Baby entwickelte. Vielleicht hatte man nur einen gewissen Vorrat an Gefühl und musste aufteilen. Harald ging mit mehr Ernst zur Arbeit. Harald half beim Wickeln und Baden. Harald machte Frühstück und baute den Kinderwagen zusammen, der in mehreren Teilen geliefert worden war. Das Ding wirkte wie ein Panzer - wehrhaft, fast agressiv - aber natürlich auch stabil, ja, haltbar und sehr praktisch mit den vielen Ablagen und Seitenfächern, mit Federung und Speichenrädern, einer schweren Metallkonstruktion und dem fest arretierbaren Dach, das einem herabfallenden Ziegelstein sicher problemlos widerstanden hätte. Ellen lächelte, wie es sich in so einem Fall für eine frisch gebackene Mutter gehörte. Nun eigentlich war ja das Baby frisch gebacken, nicht sie. Der Tag hatte nun einigermaßen stabile Abläufe. Ruhe- und Fütterungsphasen wurden durch Windelnwechseln voneinander abgegrenzt. Alles fühlte sich immer sicherer und selbstverständlicher an. Ella begann zu genießen, dass sie nicht mehr zu Arbeit musste. Draußen war Frühling und da kam Ella die Idee, wieder einmal ein Buch zu lesen. (…) __________________________________________________________________ Mein Gott, Walter! Man schaut in das, mit bunten Stühlen im Stil der 50er Jahre eingerichtete, Wartezimmer einer Arztpraxis. Durch eine breite Fensterfront fällt Morgensonne und erhellt den Raum, dessen weiße Tapete das Licht streut. An der Wand hängen einige großformatige Blumenbilder, die vermutlich eine entspannte Atmosphäre schaffen sollen. Auf einem blauen Stuhl sitzt, zwischen anderen Patienten ein Mann mittleren Alters und schlanker Statur. Er hat sich in Zeiten der Grippewelle offenbar dagegen entschieden, eine der ausgelegten Illustrierten anzufassen. Jedenfalls schaut er in sein Handy, auf dessen Bildschirm die Nachrichten der Tagesschau angezeigt werden. Täglich jagen Katastrophen rund um den Erdball, die sich in den Nachrichten zu Meldungen verdichten. Der Mann schaut immer nur kurz auf den Bildschirm, dann wieder lange zu Boden. Kann sein, er ist gedanklich eher mit eigenen Problemen beschäftigt. Nun, er sitzt sicher nicht im Wartezimmer, um sich zu sonnen. Man sieht ihm aber nichts an, er wirkt kräftig und gesund. Oft stecken dahinter die böseren, die heimlichen Krankheiten. Jetzt wird er aufgerufen: Herr Strohmeier, kommen Sie bitte. Er erhebt sich schwungvoll, geht mit federndem Schritt; Probleme mit Gelenken hat er offenbar nicht. Am Tresen der Sprechstundenhilfe wird er ausführlich befragt. „Walter Strohmeier, ist das richtig?“ Er ist also zum ersten Mal hier. „Wir nehmen eigentlich keine Neuen mehr auf,“ sagt die Sprechstundenhilfe, „aber sie kommen auf Empfehlung von Dr. Mildner, nicht wahr?“ Er nickt. „Da machen wir mal ne Ausnahme“, leiselt sie und schaut um sich wie eine Geheimagentin, bevor sie das Wort „Ausnahme“ durch spitze Lippen säuselt. Er beugt sich über den Tresen und flüstert zurück, „wunderbar, vielen Dank“. Die Dame freut sich offenbar, dass er so willig in Ihre kleine Inszenierung einsteigt. Laut sagt sie, „Gehen Sie dann bitte den Gang hinunter und setzen sich dort auf einen der Stühle. Sie werden aufgerufen.“ Er sagt: „Ich weiß“, wobei sein Tonfall sehr ungewöhnlich klingt, so, als meine er genau das, was er sagt. Die Sprechstundenhilfe hebt auch überrascht den Blick, erwidert aber nichts mehr.Man schaut jetzt in einen langen Gang, halbdunkel, nur ein schmales Fenster ganz am Ende. Strohmeier geht den Gang runter. Er setzt sich auf einen Stuhl. Er wartet. Er wird aufgerufen. Man sieht jetzt das Sprechzimmer, wo der Arzt zu seinem Schreibtisch zurück geht und sagt „Nehmen Sie doch Platz Herr ...“ „Strohmeier“, ergänzt Strohmeier. Er rückt sich einen Stuhl zurecht und setzt sich. „Was kann ich für Sie tun, Herr Strohmeier?“, eröffnet der Arzt. „Sie können leider nichts für mich tun. Trotzdem will ich es doch einfach mal probieren, Hilfe zu suchen.“ Der Arzt lacht indigniert, „Sie wissen ja recht genau, was ich kann und was nicht.“ „Ja, leider“, bedauert Strohmeier, „genau das ist unter Anderem mein Problem.“ Der Arzt zieht den Nacken zurück und die Stirne kraus, „Sie wollen mich veralbern“, stellt er fest, „weshalb sind Sie wirklich hier?“ „Hm, nicht einfach zu erklären“, zögert Strohmeier. „Versuchen Sie‘s“, ermuntert der Arzt. „Also gut.“ Strohmeier reibt sich den Nacken, holt tief Luft. Seine Stimme klingt sehr vorsichtig, sehr sachlich, als er sagt: „Erschrecken Sie bitte nicht. Lassen Sie es mich so ausdrücken: Ich bin Gott.“ „Was?“, platzt da der Arzt heraus und atmet eine Weile nicht. Jetzt holt er Luft. „Hören Sie, ich bin kein Psychiater. Ich kann Ihnen höchstens eine Überweisung schreiben.“ „An Dr. Witzig, ich weiß.“ Strohmeier klingt gelangweilt und wippt mit der Fußspitze. Der Arzt jetzt baff: „Woher wissen Sie? Wer sind Sie?“ „Schon vergessen?“, fragt Strohmeier lakonisch, (…) ______________________________ Ein Sommer Als ich die Haustüre öffne, drückt mich die Tür sofort einen Schritt in den Flur zurück. Ich muss Kraft aufwenden, um gegen zu halten. Durch den offenen Spalt fegt mir ein heftiger Windzug ins Gesicht. Ein wilder Morgen aus rauschenden Baumkronen, zerzaustem Haar, flatternden Hosen und fliegenden Röcken drückt herein. Der Türspalt ruckt in Schüben. Ich lasse ihn nun vorsichtig wachsen, um mehr vom Draußen zu erkennen. Jemandem springt die Mütze vom Kopf, eine Tasche weht hoch, rutscht von der Schulter und gleitet zum Handgelenk, ein Pappbecher holpert den Bordstein herab, ein Kleid, mit gestreckten Armen unten gehalten, ein Zettel flattert aus einer Hand und fliegt uneinholbar. Die Straße rauscht vor Menschen, die gegen den Wind gebeugt oder heftig von ihm getrieben, vorüber eilen, die meisten vermutlich zu ihrer Arbeit. Zwischen ihnen wirbeln trockene Blätter des Vorjahres, die der Sturm aus den beinah kahl stehenden Platanen pflückt, welche im Sommer dem ganzen Weg hinab zur Innenstadt schwankenden, lichtfleckigen Schatten spenden. Der Frühling tüpfelt schon die Grünfläche entlang der Straße mit Gänseblümchen, aber der Winter inszeniert heute offenbar ein vielleicht letztes großes Theater, bevor er einer, mittags schon die Dächer der hohen Bürgerhäuser übersteigenden Sonne nachgeben muss. Die Stadt kribbelt vor Frühling, wirkt aufgeregt und hellwach in dieser starken Luft, die sich so ungestüm an die Häuser wirft. Das alles drückt herein, indes ich selbst noch kaum aus den Augen sehe, weil sich in mir noch Bettwärme träge zur anderen Seite wälzt. Zwischen mir und der Welt steht dieser schützende Abstand aus kuscheliger Müdigkeit und halb geschlossener Tür. Ich habe frei an diesem stürmischen Morgen. Ich gehe nur drei Wochentage fester Arbeit nach, ansonsten nenne ich mich „Autor“, obwohl ich lange nicht geschrieben und in meinem, nicht mehr ganz jungen, Leben noch nichts verkauft habe. Der Faden, der sich aus Kindheit und Jugend durch das Leben zog, hängt derzeit lose herab und meine Versuche, die gerissenen Enden zu verknüpfen, strotzen vor wirren Knoten. Was soll das nun werden? Eine selbstkritische Persönlichkeitsanalyse im Halbschlaf? Ich entschließe mich zu Kaffee und Croissant, um mich mit diesem flatternden Frühlingsmorgen vorsichtig anzufreunden. So hoffe ich, wirren Lebensfragen hinter meiner Stirn zu entkommen und schnell der fleißigen Strebsamkeit der Straße wieder zu entgehen. Ich drücke mich durch die Tür und ziehe sie gegen den Wind heftig hinter mir ins Schloss. Wie ich da reglos stehe, wirkt es vermutlich, als habe mich ein Bus an falscher Haltestelle abgesetzt. Kaffee und Croissant, erinnere ich mich. Das kleine Uni-Café an der Ecke scheint mir wieder einmal der passende Ort, um meinem verschlafenen Dasein den richtigen Rahmen zu schaffen. Es ist nicht weit. Über den Eingang des Cafés spannt sich die erloschene Leuchtschrift „Runde Ecke“. Ein großes, gewölbtes Fenster, das den Innenraum dieses Cafés zum Gehweg hin abschließt, hat wohl bei der Namensgebung Pate gestanden. Hierher kommen viele Studenten der nahen Uni und es geht hier abends sehr laut zu, aber am Vormittag gähnt da mit mir Leere.Oft sitze ich dort drinnen auf einem der hohen Hocker, an den schmalen, rund laufenden Tresen gestützt und schaue stundenlang zu vorbeiziehenden Menschen hinaus, ohne Nennenswertes zu entdecken. Ich habe oft, zu oft, Nachmittage hier versessen, indes meine Augen in Ausschnitte hüpfen, Wölbungen hinab gleiten, Beine hinauf kriechen und um Rocksäume schleichen, aber auch Dreitagesbärte studieren, Brillenformen in Betracht ziehen, Haltung bewundern und Bügelfalten, Tennisschuhe und peinlich streng hochgezogene Socken. Doch heute Morgen suche ich eher Schutz, eine dunkle Brille, durch die nur Vages zu sehen ist. Ich schiebe mich routiniert durch die Eingangstür, von der ich weiß, dass sie anfangs klemmt und starken Druck braucht. Drinnen ist der Wind sofort wie abgerissen. Wie vermutet ist so früh morgens das noch Café leer. Die Studenten, die sich selbst und jedem, der den Fehler macht bei ihnen am Tresen stehen zu bleiben, beweisen wollen, wie bedeutsam und schlau sie sind, kommen erst abends. Ihr selbstgefälliges Grölen, will ich mir so früh am Morgen nicht einmal vorstellen. Ich genieße die Stille, die Leere, die schützende Gewohnheit. Mit geschlossenen Augen kann ich diesen Ort beschreiben. Zu meiner Linken, wo das lange Fenster sich entlang wölbt, ist der Raum prägnant und lichterfüllt. Zur anderen Seite hin, zieht sich ein beiderseits holzgetäfelter, fensterloser Schlauch dunkel und gleichmäßig hin, der in der Breite immer nur einem Tischchen Raum gibt. Über jedem dieser runden Tische hängt, überraschend tief, eine schwarze Pendelleuchte, die zu jeder Tageszeit unscharfen, gelben Lichtfleck auf die weiße Marmorfläche gießt. Keine Fenster da hinten, wie gesagt, aber dafür zu beiden Seiten eine lange Reihe alter Kinoplakate, in schwarzen Holzrahmen, Filme der 50er und 60er Jahre, James Dean und so, und über jedem Plakat eine kleine, stabförmige, mickrige Klemmleuchte, der es leidlich gelingt, die obere Hälfte des Plakats aufzuhellen. Dieser ganze Schlauch wirkt düster und heimelig zugleich, wie aus der Welt genommen, den Tageszeiten verborgen, aus dem Mainstream der Abläufe gerutscht. Hier ist schlechter Handyempfang und die große Bahnhofsuhr, die den Raum nach hinten abschließt, fasst alles noch einmal bitter zusammen – sie ist vor Jahren auf halb drei stehen geblieben, halb drei nachts, vermute ich. Das Halbdunkel zieht mich an. Ich wende mich nach rechts und setzte mich an das dritte Tischchen in der Reihe, weil mir dort die Grenze zwischen hell und dunkel zu verlaufen scheint und mich an einen Buchtitel erinnert: Ein Liebhaber des Halbschattens. Andersch, glaube ich; keine Ahnung mehr, was in dem Buch steht, aber ich fand schon immer, der Titel passe zu mir – zu mir, der ich mich halb drinnen, halb draußen, halb allein und halb dabei oft am wohlsten fühle. Die Bedienung folgt meinem suchenden Blick einigermaßen desinteressiert, bis ich mich für eines der Tischchen entschieden habe, stützt sich dann schwer von einem Stuhl in der hintersten Ecke des zehn Tische tiefen Raumes hoch und schlappt heran. Ich gebe meine Bestellung auf. Ein taubenhaftes Nicken, dann schlurfen die Schritte nach vorne zur Bedientheke. Ich höre das spitze Klick-klack des Porzellans, das Tack, mit dem der Kaffeefilter angesetzt wird, das Brausen der Maschine, ein Löffel klappert hell, dann das matte Rappeln aneinanderstoßender Milchdöschen, zwischen denen eine Hand kramt. Kurz darauf hat die Bedienung offenbar alles beisammen, kommt herüber und stellte mir, mit erneut stummem Nicken, diesmal ergänzt mit freundlichem Lächeln, Tasse und Teller hin. Mein Tischchen ist gedeckt und herber Kaffeeduft ergänzt nun sehr angenehm meine verschlafene Morgenstimmung. Ich breche das Croissant mitten durch und lege die Hälften Rücken an Rücken, wie gewohnt. Ich nippe gerade den ersten Schaumrand von meiner Tasse, als die Tür des Cafés geräuschvoll auf fliegt und eine junge Frau herein weht, als habe ihr der Wind die Tür aufgesprengt. Ihr knielanges Blumenkleid fliegt um hohe, dürre Beine, rötliches, schulterlanges Lockenhaar springt wild in ihr vor Lachen leuchtendes, sommersprossenfreches Gesicht. Sie bricht über das Café herein wie ein vor bunten Blüten aufplatzender Frühling. Plötzlich riecht der ganze Raum nach Hyazinthen. (…) _________________________________________________
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PROSA / Kurzgeschichten
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Ein Buch zu viel Lass mich nur machen, sagte Harald Dornfeld. Seine Frau Ella hatte gewusst, dass das gleich kommen würde. Und sie wusste auch, was es bedeutete. Harald würde seine Abende ab sofort vor dem Computer verbringen, wo er - beginnend mit Stiftung Warentest - alle Besprechungen, Kritiken und Lobpreisungen durchstöbern würde, die sich zum Thema "Kinderwagen" überhaupt nur auftreiben ließen. Das war, wie er es nannte, Stufe 2. In Stufe 1 hatte er bis dahin bereits alle Hersteller durchforstet, um sich die Kriterien zu erarbeiten, nach denen ein "wirklich guter" Kinderwagen beurteilt werden konnte und ganz nebenbei war dabei noch ein Index aller namhaften Marken entstanden. Stufe 3 bedeutete "Preiskampf". Nun wurden die verschiedenen Anbieter auf ihr Preis- Leistungs-Verhältnis hin überprüft, wobei er den versteckten Nebenkosten, wie Versand, Verpackung, aber auch Rückgabegarantien sowie allen Bewertungen der Anbieter durch Kunden besonderes Augenmerk schenkte. Dies alles war Vorbereitung, denn nun erst begann Haralds kaum zu verheimlichende Leidenschaft ihr Recht zu fordern: die Schnäppchenjagt. Alle Anbieter bei Amazon und auf allen Vergleichsplattformen wurden herangezogen und die Bewertungen studiert. Schließlich fand sich Harald regelmäßig auf den Seiten von ebay wieder, wo er die Versteigerungs- und Sofortkauf- Angebote nächtelang verfolgte, weil er kein rechtes Vertrauen in das automatische Bieten fassen konnte, das, wie er sagte, auch den ganzen Spaß aus der Sache tilgte. Wichtig waren vor allem die letzten Stunden einer Auktion. Ella hatte das Gefühl aus dem Stand ein Buch über dieses Thema schreiben zu können, so oft hatte Harald ihr alle Details auseinander gesetzt. Erst in den letzten Minuten, hatte er ihr mit irrem Funkeln in den Augen erklärt, erst in den letzten Sekunden sogar, entscheidet sich alles. Was nach einer äußerst kritischen Rettungsaktion bei einem Bergwerksunglück klang, war im Kern ein ganz einfacher Einkauf. Ella wurde nebenbei noch in die Transaktion involviert. Sie hatte die Kleinanzeigen in der lokalen Presse im Auge zu behalten. Auch Telefonate mit den Herstellern, die irgendein wichtiges Detail klären sollten, fielen in ihren Aufgabenbereich, wohingegen alle Kontakte mit und Nachfragen bei den Online-Anbietern in Haralds Metier fielen, weil er ihr die Feinheiten und Hintersinnigkeiten dieser mit allen Wassern gewaschenen Spezies Mensch nicht zumuten wollte und wohl auch kein rechtes Vertrauen in ihr Verhandlungsgeschick hatte. Wie gesagt: Diesmal ging es um einen Kinderwagen. Du bist Dir schon im Klaren darüber, dass mein dicker Bauch nicht die Folge einer Pizza-Orgie ist, hatte Sie vorsichtig angeführt, als der Einkaufsprozess ihr allzu langwierig und verzweigt zu werden schien, wir haben da so ein Ablaufdatum, Schatz, das sollten wir nicht ganz aus dem Auge verlieren. Er hatte sie mit verstörtem Blick flehend angesehen. Mach mir nicht auch noch Druck, hatte er gestöhnt. Das ist alles ein Dickicht, das ich erst lichten muss. Da sind unglaublich viele Kriterien zu berücksichtigen. Wenn wir nachher so ein Ding hier stehen haben, mit dem wir nicht zufrieden sind, ist ja auch keinem geholfen. Du weißt schon noch, dass du dabei bist einen Kinderwagen zu kaufen, hatte sie lächelnd gefragt, es klingt nämlich eher nach der Investition in einen Jumbo- Jet. Er hatte nur den Kopf geschüttelt, als wolle er ganz bedächtig ihre Ironie aus den Haaren bekommen. Du verstehst das nicht, hatte er wieder einmal behauptet. Schatz, ich wollte dich ja nur daran erinnern, dass so ein Kinderwagen in der Regel eine begrenzte Verwendungsdauer hat. Fünfzehnjährige werden meist nicht mehr darin spazierengefahren. Das Ding muss also nicht aus Chrom-Vanadium-Stahl sein. Harald sah jetzt verzweifelt zur Decke, als erhoffe er Hilfe aus dem All. Ok, sagte sie, aber bis nächsten Montag muss das Kind aus dem Brunnen - sozusagen. Harald machte einen Laut, den man auch als Zustimmung interpretieren konnte. Es ist gar nicht zu verstehen, was da in einem vorgeht. Man verwandelt sich in eine Art Gerät, halb Backofen, halb Getränkeautomat. Dabei wird man dick, launisch und fühlt sich zeitweise ganz wörtlich genommen zum Kotzen. Man schwitzt. Bei Nacht schläft man unruhig und muss sich mehr wälzen, als drehen. Man fühlt sich attraktiv, wie eine Dampfwalze und erträgt nur schwer, dass man geschont wird, wo man nicht will und gefordert, wo man nicht so kann, wie man will. Es soll Menschen geben, die so ein Zustand als pures Glück erleben. Ella wollte lieber keine dieser Frauen kennenlernen. Dennoch trieb sie die Sorge, ob alles in Ordnung war mit ihr und dem Baby, doch in die physische Nähe dieses schwellbäuchigen Volksstammes. Schon das Wort “schwanger” klang in ihren Ohren wie eine Unanständigkeit, etwas Peinliches. Das Kind in ihrem Bauch trat sie heftig, wie um sie für solche Ansichten zu bestrafen. Dieses Geschwür in ihr begann Eigenleben zu entwickeln. Auch das noch. Sie zog die Ultraschallbilder aus der Handtasche. Sie musste diese schemenhaften Darstellungen immer bei sich haben, um sich selbst glauben zu können. Ja, da wuchs doch tatsächlich etwas in ihr heran. Eindringliche Stimmen in ihrem Kopf erklärten, dass sie den hellen, unscharfen Fleck auf diesem Bild lieben würde - später vermutlich. Ella schenkte sich Kräutertee nach. Soetwas hätte ich früher nicht mal zum Zähneputzen verwendet. Schmeckt wie Pisse mit Lavendelaroma. Aber sie hielt sich akribisch an alles, was man in solch einer Situation zu tun hatte. Kein Alkohol, keine Zigaretten, keine Extreme, den Bauch halten mit seeligem Lächeln und mit sanfter Stimme sagen: Es hat sich bewegt, Schatz. Willst du mal fühlen? Das Kind kam etwas zu früh. Gerade so, als wolle es die nörgelnde Mutter um sich herum endlich los werden. Eine fürchterliche Stunde, bei der ihr Harald vor Hilfsbereitschaft beinahe die Hand zerquertschte, während das Baby alles daran setzte, ihren Körper zu sprengen. Zeitweise wusste sie nicht, was mehr wehtat. Dann kam das Kind. Flutschte heraus, wie ein Fisch, nur größer. begann zu quäken. Und sie fiel rückwärts aus den Schmerzen heraus in eine Leere, in eine Abwesenheit, die sie einige Sekunden erstaunte, bis sie begriff, dass es die Abwesenheit der Fülle war, die sie überraschte, das Ende des Aufgetriebenseins, des Schmerzvollen, der Prallheit. Sie fühlte sich erschöpft und nass. Jemand tupfte ihr den Schweiß von der Stirn. Das wirkte zärtlich. Während sie versuchte, die Welt neu zu begreifen, trat eine strahlende Schwester an ihr Bett heran mit einer Hand voll Leben, beugte sich zu ihr herab, legte ihr das Wesen auf die Brust und sagte: Es ist ein Junge. Sie sah das zuckende kleine Ding an und hatte zum ersten Mal soetwas, wie ein Gefühl. Ein Gefühl der Überraschung und Zuneigung, aber auch der Fremdheit und Sorge. Würde sie dem allem gewachsen sein, wie ein Baum seinen Früchten gewachsen ist - einfach so, als ein Ereignis, als ein Mechanismus, der greifen würde, über sie hinweg, in sie hinein und die Regelkreise richtig einstellte, welche die Zusammensetzung der Milch, den nötigen Grad an Selbstaufgabe und den Hormontiter regulierte, eben das, was es braucht, um das alles als Glück zu empfinden? Die Natur machte alles richtig. Der Kleine atmete und trank, schrie und schlief, zappelte und füllte seine Windeln. Ellen verlor viel von ihrem Interesse an Harald - etwa genau so viel, wie sie an Zuneigung zu dem Baby entwickelte. Vielleicht hatte man nur einen gewissen Vorrat an Gefühl und musste aufteilen. Harald ging mit mehr Ernst zur Arbeit. Harald half beim Wickeln und Baden. Harald machte Frühstück und baute den Kinderwagen zusammen, der in mehreren Teilen geliefert worden war. Das Ding wirkte wie ein Panzer - wehrhaft, fast agressiv - aber natürlich auch stabil, ja, haltbar und sehr praktisch mit den vielen Ablagen und Seitenfächern, mit Federung und Speichenrädern, einer schweren Metallkonstruktion und dem fest arretierbaren Dach, das einem herabfallenden Ziegelstein sicher problemlos widerstanden hätte. Ellen lächelte, wie es sich in so einem Fall für eine frisch gebackene Mutter gehörte. Nun eigentlich war ja das Baby frisch gebacken, nicht sie. Der Tag hatte nun einigermaßen stabile Abläufe. Ruhe- und Fütterungsphasen wurden durch Windelnwechseln voneinander abgegrenzt. Alles fühlte sich immer sicherer und selbstverständlicher an. Ella begann zu genießen, dass sie nicht mehr zu Arbeit musste. Draußen war Frühling und da kam Ella die Idee, wieder einmal ein Buch zu lesen. (…) __________________________________________________________________ Mein Gott, Walter! Man schaut in das, mit bunten Stühlen im Stil der 50er Jahre eingerichtete, Wartezimmer einer Arztpraxis. Durch eine breite Fensterfront fällt Morgensonne und erhellt den Raum, dessen weiße Tapete das Licht streut. An der Wand hängen einige großformatige Blumenbilder, die vermutlich eine entspannte Atmosphäre schaffen sollen. Auf einem blauen Stuhl sitzt, zwischen anderen Patienten ein Mann mittleren Alters und schlanker Statur. Er hat sich in Zeiten der Grippewelle offenbar dagegen entschieden, eine der ausgelegten Illustrierten anzufassen. Jedenfalls schaut er in sein Handy, auf dessen Bildschirm die Nachrichten der Tagesschau angezeigt werden. Täglich jagen Katastrophen rund um den Erdball, die sich in den Nachrichten zu Meldungen verdichten. Der Mann schaut immer nur kurz auf den Bildschirm, dann wieder lange zu Boden. Kann sein, er ist gedanklich eher mit eigenen Problemen beschäftigt. Nun, er sitzt sicher nicht im Wartezimmer, um sich zu sonnen. Man sieht ihm aber nichts an, er wirkt kräftig und gesund. Oft stecken dahinter die böseren, die heimlichen Krankheiten. Jetzt wird er aufgerufen: Herr Strohmeier, kommen Sie bitte. Er erhebt sich schwungvoll, geht mit federndem Schritt; Probleme mit Gelenken hat er offenbar nicht. Am Tresen der Sprechstundenhilfe wird er ausführlich befragt. „Walter Strohmeier, ist das richtig?“ Er ist also zum ersten Mal hier. „Wir nehmen eigentlich keine Neuen mehr auf,“ sagt die Sprechstundenhilfe, „aber sie kommen auf Empfehlung von Dr. Mildner, nicht wahr?“ Er nickt. „Da machen wir mal ne Ausnahme“, leiselt sie und schaut um sich wie eine Geheimagentin, bevor sie das Wort „Ausnahme“ durch spitze Lippen säuselt. Er beugt sich über den Tresen und flüstert zurück, „wunderbar, vielen Dank“. Die Dame freut sich offenbar, dass er so willig in Ihre kleine Inszenierung einsteigt. Laut sagt sie, „Gehen Sie dann bitte den Gang hinunter und setzen sich dort auf einen der Stühle. Sie werden aufgerufen.“ Er sagt: „Ich weiß“, wobei sein Tonfall sehr ungewöhnlich klingt, so, als meine er genau das, was er sagt. Die Sprechstundenhilfe hebt auch überrascht den Blick, erwidert aber nichts mehr.Man schaut jetzt in einen langen Gang, halbdunkel, nur ein schmales Fenster ganz am Ende. Strohmeier geht den Gang runter. Er setzt sich auf einen Stuhl. Er wartet. Er wird aufgerufen. Man sieht jetzt das Sprechzimmer, wo der Arzt zu seinem Schreibtisch zurück geht und sagt „Nehmen Sie doch Platz Herr ...“ „Strohmeier“, ergänzt Strohmeier. Er rückt sich einen Stuhl zurecht und setzt sich. „Was kann ich für Sie tun, Herr Strohmeier?“, eröffnet der Arzt. „Sie können leider nichts für mich tun. Trotzdem will ich es doch einfach mal probieren, Hilfe zu suchen.“ Der Arzt lacht indigniert, „Sie wissen ja recht genau, was ich kann und was nicht.“ „Ja, leider“, bedauert Strohmeier, „genau das ist unter Anderem mein Problem.“ Der Arzt zieht den Nacken zurück und die Stirne kraus, „Sie wollen mich veralbern“, stellt er fest, „weshalb sind Sie wirklich hier?“ „Hm, nicht einfach zu erklären“, zögert Strohmeier. „Versuchen Sie‘s“, ermuntert der Arzt. „Also gut.“ Strohmeier reibt sich den Nacken, holt tief Luft. Seine Stimme klingt sehr vorsichtig, sehr sachlich, als er sagt: „Erschrecken Sie bitte nicht. Lassen Sie es mich so ausdrücken: Ich bin Gott.“ „Was?“, platzt da der Arzt heraus und atmet eine Weile nicht. Jetzt holt er Luft. „Hören Sie, ich bin kein Psychiater. Ich kann Ihnen höchstens eine Überweisung schreiben.“ „An Dr. Witzig, ich weiß.“ Strohmeier klingt gelangweilt und wippt mit der Fußspitze. Der Arzt jetzt baff: „Woher wissen Sie? Wer sind Sie?“ „Schon vergessen?“, fragt Strohmeier lakonisch, (…) ______________________________ Ein Sommer Als ich die Haustüre öffne, drückt mich die Tür sofort einen Schritt in den Flur zurück. Ich muss Kraft aufwenden, um gegen zu halten. Durch den offenen Spalt fegt mir ein heftiger Windzug ins Gesicht. Ein wilder Morgen aus rauschenden Baumkronen, zerzaustem Haar, flatternden Hosen und fliegenden Röcken drückt herein. Der Türspalt ruckt in Schüben. Ich lasse ihn nun vorsichtig wachsen, um mehr vom Draußen zu erkennen. Jemandem springt die Mütze vom Kopf, eine Tasche weht hoch, rutscht von der Schulter und gleitet zum Handgelenk, ein Pappbecher holpert den Bordstein herab, ein Kleid, mit gestreckten Armen unten gehalten, ein Zettel flattert aus einer Hand und fliegt uneinholbar. Die Straße rauscht vor Menschen, die gegen den Wind gebeugt oder heftig von ihm getrieben, vorüber eilen, die meisten vermutlich zu ihrer Arbeit. Zwischen ihnen wirbeln trockene Blätter des Vorjahres, die der Sturm aus den beinah kahl stehenden Platanen pflückt, welche im Sommer dem ganzen Weg hinab zur Innenstadt schwankenden, lichtfleckigen Schatten spenden. Der Frühling tüpfelt schon die Grünfläche entlang der Straße mit Gänseblümchen, aber der Winter inszeniert heute offenbar ein vielleicht letztes großes Theater, bevor er einer, mittags schon die Dächer der hohen Bürgerhäuser übersteigenden Sonne nachgeben muss. Die Stadt kribbelt vor Frühling, wirkt aufgeregt und hellwach in dieser starken Luft, die sich so ungestüm an die Häuser wirft. Das alles drückt herein, indes ich selbst noch kaum aus den Augen sehe, weil sich in mir noch Bettwärme träge zur anderen Seite wälzt. Zwischen mir und der Welt steht dieser schützende Abstand aus kuscheliger Müdigkeit und halb geschlossener Tür. Ich habe frei an diesem stürmischen Morgen. Ich gehe nur drei Wochentage fester Arbeit nach, ansonsten nenne ich mich „Autor“, obwohl ich lange nicht geschrieben und in meinem, nicht mehr ganz jungen, Leben noch nichts verkauft habe. Der Faden, der sich aus Kindheit und Jugend durch das Leben zog, hängt derzeit lose herab und meine Versuche, die gerissenen Enden zu verknüpfen, strotzen vor wirren Knoten. Was soll das nun werden? Eine selbstkritische Persönlichkeitsanalyse im Halbschlaf? Ich entschließe mich zu Kaffee und Croissant, um mich mit diesem flatternden Frühlingsmorgen vorsichtig anzufreunden. So hoffe ich, wirren Lebensfragen hinter meiner Stirn zu entkommen und schnell der fleißigen Strebsamkeit der Straße wieder zu entgehen. Ich drücke mich durch die Tür und ziehe sie gegen den Wind heftig hinter mir ins Schloss. Wie ich da reglos stehe, wirkt es vermutlich, als habe mich ein Bus an falscher Haltestelle abgesetzt. Kaffee und Croissant, erinnere ich mich. Das kleine Uni-Café an der Ecke scheint mir wieder einmal der passende Ort, um meinem verschlafenen Dasein den richtigen Rahmen zu schaffen. Es ist nicht weit. Über den Eingang des Cafés spannt sich die erloschene Leuchtschrift „Runde Ecke“. Ein großes, gewölbtes Fenster, das den Innenraum dieses Cafés zum Gehweg hin abschließt, hat wohl bei der Namensgebung Pate gestanden. Hierher kommen viele Studenten der nahen Uni und es geht hier abends sehr laut zu, aber am Vormittag gähnt da mit mir Leere.Oft sitze ich dort drinnen auf einem der hohen Hocker, an den schmalen, rund laufenden Tresen gestützt und schaue stundenlang zu vorbeiziehenden Menschen hinaus, ohne Nennenswertes zu entdecken. Ich habe oft, zu oft, Nachmittage hier versessen, indes meine Augen in Ausschnitte hüpfen, Wölbungen hinab gleiten, Beine hinauf kriechen und um Rocksäume schleichen, aber auch Dreitagesbärte studieren, Brillenformen in Betracht ziehen, Haltung bewundern und Bügelfalten, Tennisschuhe und peinlich streng hochgezogene Socken. Doch heute Morgen suche ich eher Schutz, eine dunkle Brille, durch die nur Vages zu sehen ist. Ich schiebe mich routiniert durch die Eingangstür, von der ich weiß, dass sie anfangs klemmt und starken Druck braucht. Drinnen ist der Wind sofort wie abgerissen. Wie vermutet ist so früh morgens das noch Café leer. Die Studenten, die sich selbst und jedem, der den Fehler macht bei ihnen am Tresen stehen zu bleiben, beweisen wollen, wie bedeutsam und schlau sie sind, kommen erst abends. Ihr selbstgefälliges Grölen, will ich mir so früh am Morgen nicht einmal vorstellen. Ich genieße die Stille, die Leere, die schützende Gewohnheit. Mit geschlossenen Augen kann ich diesen Ort beschreiben. Zu meiner Linken, wo das lange Fenster sich entlang wölbt, ist der Raum prägnant und lichterfüllt. Zur anderen Seite hin, zieht sich ein beiderseits holzgetäfelter, fensterloser Schlauch dunkel und gleichmäßig hin, der in der Breite immer nur einem Tischchen Raum gibt. Über jedem dieser runden Tische hängt, überraschend tief, eine schwarze Pendelleuchte, die zu jeder Tageszeit unscharfen, gelben Lichtfleck auf die weiße Marmorfläche gießt. Keine Fenster da hinten, wie gesagt, aber dafür zu beiden Seiten eine lange Reihe alter Kinoplakate, in schwarzen Holzrahmen, Filme der 50er und 60er Jahre, James Dean und so, und über jedem Plakat eine kleine, stabförmige, mickrige Klemmleuchte, der es leidlich gelingt, die obere Hälfte des Plakats aufzuhellen. Dieser ganze Schlauch wirkt düster und heimelig zugleich, wie aus der Welt genommen, den Tageszeiten verborgen, aus dem Mainstream der Abläufe gerutscht. Hier ist schlechter Handyempfang und die große Bahnhofsuhr, die den Raum nach hinten abschließt, fasst alles noch einmal bitter zusammen – sie ist vor Jahren auf halb drei stehen geblieben, halb drei nachts, vermute ich. Das Halbdunkel zieht mich an. Ich wende mich nach rechts und setzte mich an das dritte Tischchen in der Reihe, weil mir dort die Grenze zwischen hell und dunkel zu verlaufen scheint und mich an einen Buchtitel erinnert: Ein Liebhaber des Halbschattens. Andersch, glaube ich; keine Ahnung mehr, was in dem Buch steht, aber ich fand schon immer, der Titel passe zu mir – zu mir, der ich mich halb drinnen, halb draußen, halb allein und halb dabei oft am wohlsten fühle. Die Bedienung folgt meinem suchenden Blick einigermaßen desinteressiert, bis ich mich für eines der Tischchen entschieden habe, stützt sich dann schwer von einem Stuhl in der hintersten Ecke des zehn Tische tiefen Raumes hoch und schlappt heran. Ich gebe meine Bestellung auf. Ein taubenhaftes Nicken, dann schlurfen die Schritte nach vorne zur Bedientheke. Ich höre das spitze Klick-klack des Porzellans, das Tack, mit dem der Kaffeefilter angesetzt wird, das Brausen der Maschine, ein Löffel klappert hell, dann das matte Rappeln aneinanderstoßender Milchdöschen, zwischen denen eine Hand kramt. Kurz darauf hat die Bedienung offenbar alles beisammen, kommt herüber und stellte mir, mit erneut stummem Nicken, diesmal ergänzt mit freundlichem Lächeln, Tasse und Teller hin. Mein Tischchen ist gedeckt und herber Kaffeeduft ergänzt nun sehr angenehm meine verschlafene Morgenstimmung. Ich breche das Croissant mitten durch und lege die Hälften Rücken an Rücken, wie gewohnt. Ich nippe gerade den ersten Schaumrand von meiner Tasse, als die Tür des Cafés geräuschvoll auf fliegt und eine junge Frau herein weht, als habe ihr der Wind die Tür aufgesprengt. Ihr knielanges Blumenkleid fliegt um hohe, dürre Beine, rötliches, schulterlanges Lockenhaar springt wild in ihr vor Lachen leuchtendes, sommersprossenfreches Gesicht. Sie bricht über das Café herein wie ein vor bunten Blüten aufplatzender Frühling. Plötzlich riecht der ganze Raum nach Hyazinthen. (…) _________________________________________________
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PROSA / Kurzgeschichten
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