Ein Buch zu viel
Lass mich nur machen, sagte Harald Dornfeld. Seine Frau
Ella hatte gewusst, dass das gleich kommen würde. Und
sie wusste auch, was es bedeutete. Harald würde seine
Abende ab sofort vor dem Computer verbringen, wo er -
beginnend mit Stiftung Warentest - alle Besprechungen,
Kritiken und Lobpreisungen durchstöbern würde, die sich
zum Thema "Kinderwagen" überhaupt nur auftreiben
ließen. Das war, wie er es nannte, Stufe 2. In Stufe 1
hatte er bis dahin bereits alle Hersteller durchforstet, um
sich die Kriterien zu erarbeiten, nach denen ein "wirklich
guter" Kinderwagen beurteilt werden konnte und ganz
nebenbei war dabei noch ein Index aller namhaften
Marken entstanden. Stufe 3 bedeutete "Preiskampf".
Nun wurden die verschiedenen Anbieter auf ihr Preis-
Leistungs-Verhältnis hin überprüft, wobei er den
versteckten Nebenkosten, wie Versand, Verpackung,
aber auch Rückgabegarantien sowie allen Bewertungen
der Anbieter durch Kunden besonderes Augenmerk
schenkte. Dies alles war Vorbereitung, denn nun erst
begann Haralds kaum zu verheimlichende Leidenschaft
ihr Recht zu fordern: die Schnäppchenjagt. Alle Anbieter
bei Amazon und auf allen Vergleichsplattformen wurden
herangezogen und die Bewertungen studiert. Schließlich
fand sich Harald regelmäßig auf den Seiten von ebay
wieder, wo er die Versteigerungs- und Sofortkauf-
Angebote nächtelang verfolgte, weil er kein rechtes
Vertrauen in das automatische Bieten fassen konnte,
das, wie er sagte, auch den ganzen Spaß aus der Sache
tilgte. Wichtig waren vor allem die letzten Stunden einer
Auktion.
Ella hatte das Gefühl aus dem Stand ein Buch über dieses
Thema schreiben zu können, so oft hatte Harald ihr alle
Details auseinander gesetzt. Erst in den letzten Minuten,
hatte er ihr mit irrem Funkeln in den Augen erklärt, erst
in den letzten Sekunden sogar, entscheidet sich alles.
Was nach einer äußerst kritischen Rettungsaktion bei
einem Bergwerksunglück klang, war im Kern ein ganz
einfacher Einkauf. Ella wurde nebenbei noch in die
Transaktion involviert. Sie hatte die Kleinanzeigen in der
lokalen Presse im Auge zu behalten. Auch Telefonate mit
den Herstellern, die irgendein wichtiges Detail klären
sollten, fielen in ihren Aufgabenbereich, wohingegen alle
Kontakte mit und Nachfragen bei den Online-Anbietern
in Haralds Metier fielen, weil er ihr die Feinheiten und
Hintersinnigkeiten dieser mit allen Wassern
gewaschenen Spezies Mensch nicht zumuten wollte und
wohl auch kein rechtes Vertrauen in ihr
Verhandlungsgeschick hatte. Wie gesagt: Diesmal ging es
um einen Kinderwagen.
Du bist Dir schon im Klaren darüber, dass mein dicker
Bauch nicht die Folge einer Pizza-Orgie ist, hatte Sie
vorsichtig angeführt, als der Einkaufsprozess ihr allzu
langwierig und verzweigt zu werden schien, wir haben da
so ein Ablaufdatum, Schatz, das sollten wir nicht ganz
aus dem Auge verlieren. Er hatte sie mit verstörtem Blick
flehend angesehen. Mach mir nicht auch noch Druck,
hatte er gestöhnt. Das ist alles ein Dickicht, das ich erst
lichten muss. Da sind unglaublich viele Kriterien zu
berücksichtigen. Wenn wir nachher so ein Ding hier
stehen haben, mit dem wir nicht zufrieden sind, ist ja
auch keinem geholfen.
Du weißt schon noch, dass du dabei bist einen
Kinderwagen zu kaufen, hatte sie lächelnd gefragt, es
klingt nämlich eher nach der Investition in einen Jumbo-
Jet. Er hatte nur den Kopf geschüttelt, als wolle er ganz
bedächtig ihre Ironie aus den Haaren bekommen. Du
verstehst das nicht, hatte er wieder einmal behauptet.
Schatz, ich wollte dich ja nur daran erinnern, dass so ein
Kinderwagen in der Regel eine begrenzte
Verwendungsdauer hat. Fünfzehnjährige werden meist
nicht mehr darin spazierengefahren. Das Ding muss also
nicht aus Chrom-Vanadium-Stahl sein. Harald sah jetzt
verzweifelt zur Decke, als erhoffe er Hilfe aus dem All.
Ok, sagte sie, aber bis nächsten Montag muss das Kind
aus dem Brunnen - sozusagen. Harald machte einen Laut,
den man auch als Zustimmung interpretieren konnte.
Es ist gar nicht zu verstehen, was da in einem vorgeht.
Man verwandelt sich in eine Art Gerät, halb Backofen,
halb Getränkeautomat. Dabei wird man dick, launisch
und fühlt sich zeitweise ganz wörtlich genommen zum
Kotzen. Man schwitzt. Bei Nacht schläft man unruhig und
muss sich mehr wälzen, als drehen. Man fühlt sich
attraktiv, wie eine Dampfwalze und erträgt nur schwer,
dass man geschont wird, wo man nicht will und
gefordert, wo man nicht so kann, wie man will. Es soll
Menschen geben, die so ein Zustand als pures Glück
erleben. Ella wollte lieber keine dieser Frauen
kennenlernen. Dennoch trieb sie die Sorge, ob alles in
Ordnung war mit ihr und dem Baby, doch in die
physische Nähe dieses schwellbäuchigen Volksstammes.
Schon das Wort “schwanger” klang in ihren Ohren wie
eine Unanständigkeit, etwas Peinliches. Das Kind in
ihrem Bauch trat sie heftig, wie um sie für solche
Ansichten zu bestrafen. Dieses Geschwür in ihr begann
Eigenleben zu entwickeln. Auch das noch. Sie zog die
Ultraschallbilder aus der Handtasche. Sie musste diese
schemenhaften Darstellungen immer bei sich haben, um
sich selbst glauben zu können. Ja, da wuchs doch
tatsächlich etwas in ihr heran. Eindringliche Stimmen in
ihrem Kopf erklärten, dass sie den hellen, unscharfen
Fleck auf diesem Bild lieben würde - später vermutlich.
Ella schenkte sich Kräutertee nach. Soetwas hätte ich
früher nicht mal zum Zähneputzen verwendet. Schmeckt
wie Pisse mit Lavendelaroma. Aber sie hielt sich akribisch
an alles, was man in solch einer Situation zu tun hatte.
Kein Alkohol, keine Zigaretten, keine Extreme, den Bauch
halten mit seeligem Lächeln und mit sanfter Stimme
sagen: Es hat sich bewegt, Schatz. Willst du mal fühlen?
Das Kind kam etwas zu früh. Gerade so, als wolle es die
nörgelnde Mutter um sich herum endlich los werden.
Eine fürchterliche Stunde, bei der ihr Harald vor
Hilfsbereitschaft beinahe die Hand zerquertschte,
während das Baby alles daran setzte, ihren Körper zu
sprengen. Zeitweise wusste sie nicht, was mehr wehtat.
Dann kam das Kind. Flutschte heraus, wie ein Fisch, nur
größer. begann zu quäken. Und sie fiel rückwärts aus den
Schmerzen heraus in eine Leere, in eine Abwesenheit, die
sie einige Sekunden erstaunte, bis sie begriff, dass es die
Abwesenheit der Fülle war, die sie überraschte, das Ende
des Aufgetriebenseins, des Schmerzvollen, der Prallheit.
Sie fühlte sich erschöpft und nass. Jemand tupfte ihr den
Schweiß von der Stirn. Das wirkte zärtlich. Während sie
versuchte, die Welt neu zu begreifen, trat eine
strahlende Schwester an ihr Bett heran mit einer Hand
voll Leben, beugte sich zu ihr herab, legte ihr das Wesen
auf die Brust und sagte: Es ist ein Junge. Sie sah das
zuckende kleine Ding an und hatte zum ersten Mal
soetwas, wie ein Gefühl. Ein Gefühl der Überraschung
und Zuneigung, aber auch der Fremdheit und Sorge.
Würde sie dem allem gewachsen sein, wie ein Baum
seinen Früchten gewachsen ist - einfach so, als ein
Ereignis, als ein Mechanismus, der greifen würde, über
sie hinweg, in sie hinein und die Regelkreise richtig
einstellte, welche die Zusammensetzung der Milch, den
nötigen Grad an Selbstaufgabe und den Hormontiter
regulierte, eben das, was es braucht, um das alles als
Glück zu empfinden?
Die Natur machte alles richtig. Der Kleine atmete und
trank, schrie und schlief, zappelte und füllte seine
Windeln. Ellen verlor viel von ihrem Interesse an Harald -
etwa genau so viel, wie sie an Zuneigung zu dem Baby
entwickelte. Vielleicht hatte man nur einen gewissen
Vorrat an Gefühl und musste aufteilen. Harald ging mit
mehr Ernst zur Arbeit. Harald half beim Wickeln und
Baden. Harald machte Frühstück und baute den
Kinderwagen zusammen, der in mehreren Teilen geliefert
worden war. Das Ding wirkte wie ein Panzer - wehrhaft,
fast agressiv - aber natürlich auch stabil, ja, haltbar und
sehr praktisch mit den vielen Ablagen und Seitenfächern,
mit Federung und Speichenrädern, einer schweren
Metallkonstruktion und dem fest arretierbaren Dach, das
einem herabfallenden Ziegelstein sicher problemlos
widerstanden hätte. Ellen lächelte, wie es sich in so
einem Fall für eine frisch gebackene Mutter gehörte. Nun
eigentlich war ja das Baby frisch gebacken, nicht sie. Der
Tag hatte nun einigermaßen stabile Abläufe. Ruhe- und
Fütterungsphasen wurden durch Windelnwechseln
voneinander abgegrenzt. Alles fühlte sich immer sicherer
und selbstverständlicher an. Ella begann zu genießen,
dass sie nicht mehr zu Arbeit musste. Draußen war
Frühling und da kam Ella die Idee, wieder einmal ein
Buch zu lesen. (…)
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Mein Gott, Walter!
Man schaut in das, mit bunten Stühlen im Stil der 50er
Jahre eingerichtete, Wartezimmer einer Arztpraxis.
Durch eine breite Fensterfront fällt Morgensonne und
erhellt den Raum, dessen weiße Tapete das Licht streut.
An der Wand hängen einige großformatige Blumenbilder,
die vermutlich eine entspannte Atmosphäre schaffen
sollen. Auf einem blauen Stuhl sitzt, zwischen anderen
Patienten ein Mann mittleren Alters und schlanker
Statur. Er hat sich in Zeiten der Grippewelle offenbar
dagegen entschieden, eine der ausgelegten Illustrierten
anzufassen. Jedenfalls schaut er in sein Handy, auf
dessen Bildschirm die Nachrichten der Tagesschau
angezeigt werden. Täglich jagen Katastrophen rund um
den Erdball, die sich in den Nachrichten zu Meldungen
verdichten. Der Mann schaut immer nur kurz auf den
Bildschirm, dann wieder lange zu Boden. Kann sein, er ist
gedanklich eher mit eigenen Problemen beschäftigt.
Nun, er sitzt sicher nicht im Wartezimmer, um sich zu
sonnen. Man sieht ihm aber nichts an, er wirkt kräftig
und gesund. Oft stecken dahinter die böseren, die
heimlichen Krankheiten.
Jetzt wird er aufgerufen: Herr Strohmeier, kommen Sie
bitte. Er erhebt sich schwungvoll, geht mit federndem
Schritt; Probleme mit Gelenken hat er offenbar nicht. Am
Tresen der Sprechstundenhilfe wird er ausführlich
befragt. „Walter Strohmeier, ist das richtig?“ Er ist also
zum ersten Mal hier. „Wir nehmen eigentlich keine
Neuen mehr auf,“ sagt die Sprechstundenhilfe, „aber sie
kommen auf Empfehlung von Dr. Mildner, nicht wahr?“ Er
nickt. „Da machen wir mal ne Ausnahme“, leiselt sie und
schaut um sich wie eine Geheimagentin, bevor sie das
Wort „Ausnahme“ durch spitze Lippen säuselt. Er beugt
sich über den Tresen und flüstert zurück, „wunderbar,
vielen Dank“. Die Dame freut sich offenbar, dass er so
willig in Ihre kleine Inszenierung einsteigt. Laut sagt sie,
„Gehen Sie dann bitte den Gang hinunter und setzen sich
dort auf einen der Stühle. Sie werden aufgerufen.“ Er
sagt: „Ich weiß“, wobei sein Tonfall sehr ungewöhnlich
klingt, so, als meine er genau das, was er sagt. Die
Sprechstundenhilfe hebt auch überrascht den Blick,
erwidert aber nichts mehr.Man schaut jetzt in einen
langen Gang, halbdunkel, nur ein schmales Fenster ganz
am Ende. Strohmeier geht den Gang runter. Er setzt sich
auf einen Stuhl. Er wartet. Er wird aufgerufen. Man sieht
jetzt das Sprechzimmer, wo der Arzt zu seinem
Schreibtisch zurück geht und sagt „Nehmen Sie doch
Platz Herr ...“ „Strohmeier“, ergänzt Strohmeier. Er rückt
sich einen Stuhl zurecht und setzt sich. „Was kann ich für
Sie tun, Herr Strohmeier?“, eröffnet der Arzt. „Sie können
leider nichts für mich tun. Trotzdem will ich es doch
einfach mal probieren, Hilfe zu suchen.“ Der Arzt lacht
indigniert, „Sie wissen ja recht genau, was ich kann und
was nicht.“ „Ja, leider“, bedauert Strohmeier, „genau das
ist unter Anderem mein Problem.“ Der Arzt zieht den
Nacken zurück und die Stirne kraus, „Sie wollen mich
veralbern“, stellt er fest, „weshalb sind Sie wirklich hier?“
„Hm, nicht einfach zu erklären“, zögert Strohmeier.
„Versuchen Sie‘s“, ermuntert der Arzt. „Also gut.“
Strohmeier reibt sich den Nacken, holt tief Luft. Seine
Stimme klingt sehr vorsichtig, sehr sachlich, als er sagt:
„Erschrecken Sie bitte nicht. Lassen Sie es mich so
ausdrücken: Ich bin Gott.“ „Was?“, platzt da der Arzt
heraus und atmet eine Weile nicht. Jetzt holt er Luft.
„Hören Sie, ich bin kein Psychiater. Ich kann Ihnen
höchstens eine Überweisung schreiben.“ „An Dr. Witzig,
ich weiß.“ Strohmeier klingt gelangweilt und wippt mit
der Fußspitze. Der Arzt jetzt baff: „Woher wissen Sie? Wer
sind Sie?“ „Schon vergessen?“, fragt Strohmeier
lakonisch, (…)
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Ein Sommer
Als ich die Haustüre öffne, drückt mich die Tür sofort
einen Schritt in den Flur zurück. Ich muss Kraft
aufwenden, um gegen zu halten. Durch den offenen Spalt
fegt mir ein heftiger Windzug ins Gesicht.
Ein wilder Morgen aus rauschenden Baumkronen,
zerzaustem Haar, flatternden Hosen und fliegenden
Röcken drückt herein. Der Türspalt ruckt in Schüben. Ich
lasse ihn nun vorsichtig wachsen, um mehr vom Draußen
zu erkennen. Jemandem springt die Mütze vom Kopf,
eine Tasche weht hoch, rutscht von der Schulter und
gleitet zum Handgelenk, ein Pappbecher holpert den
Bordstein herab, ein Kleid, mit gestreckten Armen unten
gehalten, ein Zettel flattert aus einer Hand und fliegt
uneinholbar. Die Straße rauscht vor Menschen, die gegen
den Wind gebeugt oder heftig von ihm getrieben, vorüber
eilen, die meisten vermutlich zu ihrer Arbeit. Zwischen
ihnen wirbeln trockene Blätter des Vorjahres, die der
Sturm aus den beinah kahl stehenden Platanen pflückt,
welche im Sommer dem ganzen Weg hinab zur
Innenstadt schwankenden, lichtfleckigen Schatten
spenden. Der Frühling tüpfelt schon die Grünfläche
entlang der Straße mit Gänseblümchen, aber der Winter
inszeniert heute offenbar ein vielleicht letztes großes
Theater, bevor er einer, mittags schon die Dächer der
hohen Bürgerhäuser übersteigenden Sonne nachgeben
muss. Die Stadt kribbelt vor Frühling, wirkt aufgeregt
und hellwach in dieser starken Luft, die sich so ungestüm
an die Häuser wirft. Das alles drückt herein, indes ich
selbst noch kaum aus den Augen sehe, weil sich in mir
noch Bettwärme träge zur anderen Seite wälzt. Zwischen
mir und der Welt steht dieser schützende Abstand aus
kuscheliger Müdigkeit und halb geschlossener Tür. Ich
habe frei an diesem stürmischen Morgen. Ich gehe nur
drei Wochentage fester Arbeit nach, ansonsten nenne ich
mich „Autor“, obwohl ich lange nicht geschrieben und in
meinem, nicht mehr ganz jungen, Leben noch nichts
verkauft habe. Der Faden, der sich aus Kindheit und
Jugend durch das Leben zog, hängt derzeit lose herab und
meine Versuche, die gerissenen Enden zu verknüpfen,
strotzen vor wirren Knoten. Was soll das nun werden?
Eine selbstkritische Persönlichkeitsanalyse im
Halbschlaf? Ich entschließe mich zu Kaffee und Croissant,
um mich mit diesem flatternden Frühlingsmorgen
vorsichtig anzufreunden. So hoffe ich, wirren
Lebensfragen hinter meiner Stirn zu entkommen und
schnell der fleißigen Strebsamkeit der Straße wieder zu
entgehen. Ich drücke mich durch die Tür und ziehe sie
gegen den Wind heftig hinter mir ins Schloss. Wie ich da
reglos stehe, wirkt es vermutlich, als habe mich ein Bus
an falscher Haltestelle abgesetzt. Kaffee und Croissant,
erinnere ich mich. Das kleine Uni-Café an der Ecke
scheint mir wieder einmal der passende Ort, um meinem
verschlafenen Dasein den richtigen Rahmen zu schaffen.
Es ist nicht weit. Über den Eingang des Cafés spannt sich
die erloschene Leuchtschrift „Runde Ecke“. Ein großes,
gewölbtes Fenster, das den Innenraum dieses Cafés zum
Gehweg hin abschließt, hat wohl bei der Namensgebung
Pate gestanden. Hierher kommen viele Studenten der
nahen Uni und es geht hier abends sehr laut zu, aber am
Vormittag gähnt da mit mir Leere.Oft sitze ich dort
drinnen auf einem der hohen Hocker, an den schmalen,
rund laufenden Tresen gestützt und schaue stundenlang
zu vorbeiziehenden Menschen hinaus, ohne
Nennenswertes zu entdecken. Ich habe oft, zu oft,
Nachmittage hier versessen, indes meine Augen in
Ausschnitte hüpfen, Wölbungen hinab gleiten, Beine
hinauf kriechen und um Rocksäume schleichen, aber
auch Dreitagesbärte studieren, Brillenformen in Betracht
ziehen, Haltung bewundern und Bügelfalten,
Tennisschuhe und peinlich streng hochgezogene Socken.
Doch heute Morgen suche ich eher Schutz, eine dunkle
Brille, durch die nur Vages zu sehen ist. Ich schiebe mich
routiniert durch die Eingangstür, von der ich weiß, dass
sie anfangs klemmt und starken Druck braucht. Drinnen
ist der Wind sofort wie abgerissen. Wie vermutet ist so
früh morgens das noch Café leer. Die Studenten, die sich
selbst und jedem, der den Fehler macht bei ihnen am
Tresen stehen zu bleiben, beweisen wollen, wie
bedeutsam und schlau sie sind, kommen erst abends. Ihr
selbstgefälliges Grölen, will ich mir so früh am Morgen
nicht einmal vorstellen. Ich genieße die Stille, die Leere,
die schützende Gewohnheit. Mit geschlossenen Augen
kann ich diesen Ort beschreiben. Zu meiner Linken, wo
das lange Fenster sich entlang wölbt, ist der Raum
prägnant und lichterfüllt. Zur anderen Seite hin, zieht
sich ein beiderseits holzgetäfelter, fensterloser Schlauch
dunkel und gleichmäßig hin, der in der Breite immer nur
einem Tischchen Raum gibt. Über jedem dieser runden
Tische hängt, überraschend tief, eine schwarze
Pendelleuchte, die zu jeder Tageszeit unscharfen, gelben
Lichtfleck auf die weiße Marmorfläche gießt. Keine
Fenster da hinten, wie gesagt, aber dafür zu beiden
Seiten eine lange Reihe alter Kinoplakate, in schwarzen
Holzrahmen, Filme der 50er und 60er Jahre, James Dean
und so, und über jedem Plakat eine kleine, stabförmige,
mickrige Klemmleuchte, der es leidlich gelingt, die obere
Hälfte des Plakats aufzuhellen. Dieser ganze Schlauch
wirkt düster und heimelig zugleich, wie aus der Welt
genommen, den Tageszeiten verborgen, aus dem
Mainstream der Abläufe gerutscht. Hier ist schlechter
Handyempfang und die große Bahnhofsuhr, die den
Raum nach hinten abschließt, fasst alles noch einmal
bitter zusammen – sie ist vor Jahren auf halb drei stehen
geblieben, halb drei nachts, vermute ich. Das Halbdunkel
zieht mich an. Ich wende mich nach rechts und setzte
mich an das dritte Tischchen in der Reihe, weil mir dort
die Grenze zwischen hell und dunkel zu verlaufen scheint
und mich an einen Buchtitel erinnert: Ein Liebhaber des
Halbschattens. Andersch, glaube ich; keine Ahnung
mehr, was in dem Buch steht, aber ich fand schon immer,
der Titel passe zu mir – zu mir, der ich mich halb drinnen,
halb draußen, halb allein und halb dabei oft am wohlsten
fühle. Die Bedienung folgt meinem suchenden Blick
einigermaßen desinteressiert, bis ich mich für eines der
Tischchen entschieden habe, stützt sich dann schwer von
einem Stuhl in der hintersten Ecke des zehn Tische tiefen
Raumes hoch und schlappt heran. Ich gebe meine
Bestellung auf. Ein taubenhaftes Nicken, dann schlurfen
die Schritte nach vorne zur Bedientheke. Ich höre das
spitze Klick-klack des Porzellans, das Tack, mit dem der
Kaffeefilter angesetzt wird, das Brausen der Maschine,
ein Löffel klappert hell, dann das matte Rappeln
aneinanderstoßender Milchdöschen, zwischen denen
eine Hand kramt. Kurz darauf hat die Bedienung offenbar
alles beisammen, kommt herüber und stellte mir, mit
erneut stummem Nicken, diesmal ergänzt mit
freundlichem Lächeln, Tasse und Teller hin. Mein
Tischchen ist gedeckt und herber Kaffeeduft ergänzt nun
sehr angenehm meine verschlafene Morgenstimmung.
Ich breche das Croissant mitten durch und lege die
Hälften Rücken an Rücken, wie gewohnt.
Ich nippe gerade den ersten Schaumrand von meiner
Tasse, als die Tür des Cafés geräuschvoll auf fliegt und
eine junge Frau herein weht, als habe ihr der Wind die
Tür aufgesprengt. Ihr knielanges Blumenkleid fliegt um
hohe, dürre Beine, rötliches, schulterlanges Lockenhaar
springt wild in ihr vor Lachen leuchtendes,
sommersprossenfreches Gesicht. Sie bricht über das Café
herein wie ein vor bunten Blüten aufplatzender Frühling.
Plötzlich riecht der ganze Raum nach Hyazinthen. (…)
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Impressum
PROSA / Kurzgeschichten